Freitag, April 19, 2024
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Irmgard Griss: Wie geht ein menschenwürdiges 2030?

Irmgard Griss
Irmgard Griss war nicht nur Präsidentin des Obersten Gerichtshofs (OGH), Bundespräsidentschaftskandidatin und später Nationalratsabgeordnete (auf einem Ticket der NEOS), sondern zwischen 2008 und 2016 als Richterin auch Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Foto: VfGH/Achim Bieniek

Mit einem Impulsreferat zu einem menschenwürdigen Leben 2030 hat uns die bekannte Juristin und Ex-Politikerin Irmgard Griss, früher Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Bundespräsidentschaftskandidatin, viel Stoff zum Nachdenken gegeben.

„‘Der Mensch ist des Menschen Wolf’, diesen Ausspruch zu falsifizieren, ist eigentlich das Wesen der Zivilisation“, meinte die Juristin und Ex-Politikerin Irmgard Griss in Anspielung auf ein Zitat des großen Staatsphilosophen Thomas Hobbes bei ihrem Vortrag für die WIPOL Steiermark. Die bekannte Grazerin hat für den aktuellen Jahrgang ein Impulsreferat zum aktuellen Jahrgangsmotto gehalten: Wie sieht ein menschenwürdiges Leben 2030 aus? Um das zu beantworten sollte man zunächst präzisieren, was mit „Menschenwürde“ überhaupt gemeint ist. Denn, wie Griss bemerkt, heißt es zwar in der EU-Grundrechtscharta „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, während gleichzeitig aber offen bleibt, was der Begriff genau bedeutet. Eine Möglichkeit sei es, die menschliche Würde als eine „Anmut, die jedem Menschen zukommt“, zu definieren, besser gefällt ihr aber die Interpretation des Schweizer Philosophen Peter Bieri, der laut Griss meint: „Würde ist eine Art zu leben. Wie wir von anderen behandelt werden, wie wir andere behandeln. Aber auch, wie wir zu uns selber stehen.“ Dabei könne man auch an den bekannten ethischen Maßstab denken, ob man sich selbst in den Spiegel schauen kann.

Ein menschenwürdiges Privatleben: Essen und Wohnen neu denken und selbstbestimmt leben

Aber wie könnte nun ein menschenwürdiges Leben 2030 aussehen? Um sich einer Antwort anzunähern, identifiziert Griss drei grobe Bereiche: Erstens, das private Leben. Zweitens, das Arbeitsleben und drittens, das gesellschaftliche Leben. Was das Privatleben betrifft, fokussierte sich Griss auf die Bereiche des Essens und des Wohnens, wobei sie in Bezug auf Ersteres für eine artgerechte Tierhaltung eintritt: „Beschädigen wir nicht unsere Würde, wenn wir Tiere wie leblose Sachen behandeln?“ Um hier Verbesserungen zu schaffen, sei einerseits die Politik im Sinne einer Verschärfung der Tierschutzgesetze gefragt, andererseits komme es auf uns alle als KonsumentInnen an. Was das Wohnen betrifft, sieht Griss im aktuellen Bauboom, wie wir ihn derzeit aus Graz kennen, eine besorgniserregende Entwicklung. Bei Anlegerwohnungen gelte: „Eigentümer scheren sich nicht um die bauliche Qualität.“ Zudem würden sogenannte Vorsorgewohnungen als bloße Spekulationsobjekte oftmals sogar leer stehen. Es gehe aber auch anders, meint Griss in Hinblick auf das Best-Practice-Beispiel einer Architektin: So sei es erstrebenswert, dass sich die BewohnerInnen einer Wohnung im Vorhinein in die Planung einbringen könnten, zudem sollte auch mit hochwertigen und nachhaltigen Materialien gebaut werden. Auch hier solle sich die Politik einbringen, etwa über die Einführung einer Leerstandsabgabe. Als dritten und letzten Punkt in Hinblick auf ein menschenwürdiges Privatleben 2030 betont Griss, es sei wichtig, dass wir alle als selbstbestimmte Wesen leben und das gute Leben nicht über materiellen Reichtum, sondern beispielsweise über wertvolle soziale Beziehungen und über ein bewusstes Wahrnehmen der Natur definieren.

Ein menschenwürdiges Arbeitsleben: Auch auf jene schauen, die „in der Geburtslotterie nicht den Lottosechser gezogen haben“

In Bezug auf das Arbeitsleben empfahl Griss zunächst, „dass ich mir als junger Mensch eine Beschäftigung suche, die mir zusagt.“ Gleichzeitig sei es auch wichtig, Burschen und Mädchen „aus Familien, die nicht wissen, wie man gut ins Arbeitsleben einsteigt“ als Gesellschaft aktiv zu unterstützen: „Dass auch Menschen eine Chance haben, die bei der Geburtslotterie nicht den Lottosechser gezogen haben, wenn man das so sagen will.“ Persönlich war es Griss wichtig, einen Job zu haben, „bei dem ich nicht dort sein muss, wenn ich nichts zu tun habe“, was auch ein Grund dafür war, dass sie sich den selbstbestimmten Beruf der Richterin ausgesucht hatte. Insgesamt sei es für ein menschenwürdiges Arbeitsleben 2030 wichtig, „in viel stärkerem Maß auf die Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen Rücksicht zu nehmen“. Bei Berufen, deren Tätigkeit nicht erfreulich sei und die es laut Griss wohl immer auch geben werde, sei es hingegen wichtig, einen entsprechenden Ausgleich zu schaffen.

Ein menschenwürdiges gesellschaftliches Leben: Mitgestalten nicht als lästige Pflicht verstehen!

Zu guter Letzt befasst sich Irmgard Griss mit einem menschenwürdigen Leben 2030 auf gesellschaftlicher Ebene, was sie insbesondere mit Bezug auf die Politik interpretierte. Zunächst einmal sei es in Hinblick auf die Demokratie wichtig, dass wir als WählerInnen eine Verantwortung hätten, „dass wir überlegen, wem wir unsere Stimme geben“. Wahlen sollten wir als eine Aufgabe des Mitgestaltens verstehen und nicht als lästige Pflicht. Zudem sei es überlegenswert die repräsentative Demokratie mit neuen Formen des Mitgestaltens zu ergänzen, etwa über die Einführung einer BürgerInnenversammlung. Dabei handelt es sich um ein Gremium, bei dem zufällig ausgewählte BürgerInnen und Bürger über politische Sachfragen diskutieren und Vorschläge für Gesetzesänderungen machen können; entsprechende Modelle wurden etwa bisher in Irland und in Vorarlberg umgesetzt. 

Screenshot vom Zoom-Event
Der Vortrag von Irmgard Griss und die anschließende Diskussion mit ihr stießen beim 11. Jahrgang der WIPOL auf großes Interesse. Foto: WIPOL Steiermark

Weitere wesentliche Punkte sind für Griss Transparenz und Korruptionsbekämpfung. Denn: „Korruption ist ein Gift für das Zusammenleben, wie ein Krebs, der sich vermehrt. Wenn das alle machen, muss ich es auch machen.“ Der Unterschied im Politikverständnis zwischen der Schweiz und Österreich erklärt die erfahrene Juristin mit einer Anekdote eines Schweizer Bekannten: „Wenn ich einen Schweizer frage: was ist der Staat? Der wird antworten: der Staat sind wir.“ Einem Österreicher komme das hingegen kaum in den Sinn. Hat sich in Österreich also immer noch eine Untertanenmentalität aus den Zeiten der Monarchie erhalten können? Das sei sicher so, meint Griss, die in diesem Kontext auch auf das Verhalten mancher Beamter hinweist, die die Bevölkerung als Bittsteller begreifen würden. „Viele Missstände“ im Verwaltungshandeln in Hinblick auf Menschenwürde und Menschenrechte sieht Griss übrigens auch als Vorsitzende der Kindeswohlkommission im Justizministerium, die sie derzeit leitet und die nach der Abschiebung der 12-jährigen Tina nach Georgien im Jänner von Vizekanzler Werner Kogler ins Leben gerufen wurde. 

Gegen Ende ihres Vortrag zitiert Griss schließlich den österreichischen Philosophen Martin Buber aus dessen Schrift „Du und Ich“: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Buber meint damit, grob gesagt, dass wir unsere eigene Identität erst in der Begegnung mit anderen entwickeln. Dazu Griss: „Wenn wir das erreichen, haben wir viel erreicht.“ Und weiter: „Jeder kann dazu einen Beitrag leisten. Und am besten wir fangen gleich damit an.“

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